Das Problem mit den Regeln
Ist euch schon mal aufgefallen, dass unsere Gesellschaft diejenigen benachteiligt, die sich an die Regeln halten? Mir ist das erst durch die Auswüchse von Covid-19 bewusste geworden, aber es ist tatsächlich ein Problem, dass sich quer durch unsere Gesellschaft zieht. Gleich vorneweg: Dieser Artikel soll nicht zum regelbrechen animieren! Vielmehr hoffe ich den ein oder anderen Leser* dazu zu bewegen mit offeneren Augen durch die Gegend zu laufen und nicht versehentlich diejenigen zu bestrafen, die sich an die Regeln halten. Doch fangen wir von vorne an.
Wer sich in der Corona-Zeit ohne Masken in der Bahn bewegt, sich mit Freunden in kleinen Gruppen trifft oder mit Husten aus dem Haus geht, der verstößt gegen das Gesetzt. Dennoch hat es Monate gedauert, bis die Maskenpflicht durchgesetzt wurde. Bis dahin konnten alle Verweigerer frei atmen und waren dennoch durch diejenigen, die Masken trugen, ganz gut geschützt. Es dauerte ewig, bis hier ernsthaft kontrolliert wurde. Meiner persönlichen Meinung sind Masken übrigens in vollgestopften Bahnen eine Sache, die wir gerne für die post-Covid Zeit beibehalten dürfen. Auch wer sich über das Gebot hinweg setzt und sich nicht nur mit einer Person trifft ist klar im Vorteil: All die psychischen Nebenwirkungen des fehlenden sozialen Kontaktes werden eingeschränkt und das Belohnungszentrum wird auch noch durch einen schönen Abend getriggert. Derjenige der sich an die Regeln hält sitzt alleine, im Besten Fall noch mit einer anderen Person daheim, während der Regelbrecher einen spaßigen Abend nach dem anderen hat. Und die Konsequenz? In 99,99% der Fälle: Keine!
Der Gedanke dahinter ist verständlich: Die Politik möchte, dass sich möglichst viele Menschen an die Regeln halten um Corona einzudämmen. Da viele Menschen aber nun Mal so gestrickt sind die Regeln für sich in einem gewissen Rahmen anzupassen, muss immer mehr darauf geachtet werden, dass diejenigen, die sich zu hundert Prozent an die Regeln halten, nicht am Ende zu sehr darunter leiden – und das letzten Endes dafür, dass diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten, dies auch weiterhin nicht tun zu müssen. Daher sehe ich hier eine Pflicht, dass Regeln viel konsequenter umgesetzt werden müssen. Den größten Auswuchs zeigt dieses Schemata in den Corona-Protesten. Tausende die ohne Maske und Abstand protestieren, damit sich selbst etwas gutes tun, aber dafür sorgen, dass die Menschen, die sich an die Regeln halten, noch länger im Lockdown bleiben müssen. Und der Grund ist entweder, dass das Durchsetzten der Regeln nicht machbar ist, oder – und das ist leider viel weiter verbreitet – einfach nur unangenehmer und mit Stress, Arbeit und Kosten verbunden ist.
Dieses Prinzip ist weit verbreiteter in unserer Gesellschaft, als man auf Anhieb denkt. Gehen wir zum Beispiel in die Schule. Lassen wir unsere Lernenden eigenständig Stoff erarbeiten, so haben diejenigen, die dies auch tun, einen extremen Kompetenzzuwachs. Dennoch wird das Setting oft geändert, weil einige wenige Lernende nichts tun, oder den Unterricht stören. Die anstrengende Variante ist nun, mit diesen Lernenden gemeinsam zu arbeiten und die Probleme hinter ihrem Verhalten zu erkunden. Die einfache Variante ist, dass wir zurück in den Frontalunterricht wechseln. Lernender A, der eigentlich gut und frei im Projekt seine Kompetenz verbessert hätte, hat nun nicht mehr die Chance dazu. Lernender B hat seinen Spaß gehabt, Quatsch gemacht und ist nun dennoch ohne größere Konsequenz in der gleichen Position wie Lernender A.
Gehen wir in den Sport in einem kleinen Verein, der ein Turnier austrägt. In der Ausschreibung steht, dass Spieler nicht an zwei Wettkämpfen teilnehmen dürfen, die zeitlich zu nahe aufeinander folgen. Grund ist, dass sich sonst der Spielablauf zu sehr verzögert. Haben sich nun wenige Teilnehmer dennoch für zwei solcher Wettkämpfe angemeldet ist der Gedanke oft: „Bei den wenigen können wir sie ja trotzdem starten lassen“. Der Effekt ist der gleiche: Erst dadurch, dass sich viele Spieler an die Regeln halten, können die anderen sich über diese hinweg setzten und an beiden Wettkämpfen teilnehmen. Diejenigen die sich nicht an die Regeln halten werden also belohnt, weil sich einige andere an die Regeln halten, obwohl sie auch gerne spielen würden.
Dritte Situation: Wir befinden uns in einer Familie mit drei Kindern. Eines dieser Kinder jammert und schreit, wenn es nicht mit der Konsole spielen darf, bei der jetzt eigentlich eines seiner Geschwister dran wäre. Die Mutter möchte sich nicht länger mit der Erziehung beschäftigen und ist so genervt, dass sie dem Kind erlaubt länger zu spielen. Damit wird das Kind, dass sich nicht an die Regeln hält nicht nur belohnt, sondern auch die Geschwister-Kinder dafür bestraft, dass sie sich an die Regeln gehalten haben und nun länger warten müssen, bis sie spielen dürfen.
All diese Beispiele stammen aus meinen Erfahrungen und die Liste könnte ewig fortgesetzt werden. Und Corona zeigt diesen Effekt in einem viel größeren Ausmaß, weil es so viele Menschen gleichzeitig betrifft. Reduzieren wir die Kontaktpersonen von 2 auf 1, so werden dies nur diejenigen tun, die sich vorbildlich an die Regeln halten. Und in den Statistiken die Zahlen für diejenigen senken, die sich nicht an die Regeln halten. Denn seien wir ehrlich: Wer sich vorher zu fünft trifft, wird dies wegen dieser Regelung nicht reduzieren.
Dieser Text soll weder Vorwurf, noch Apell sein. Er soll uns diese Tatsache nur bewusst machen. So dass wir bewusst die Entscheidung treffen und uns auch im Klaren sind welche Auswirkungen sie hat, denn zu oft sehen wir das Ziel, aber nicht die Auswirkungen auf die scheinbar nur am Rand beteiligten…
* Alle verwendetet Formen von Nomen in diesem Artikel stehen sowohl für die weibliche als auch die männliche Form und werden der reinen Lesbarkeit halber so verwendet

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„Der Mensch hat vergessen wie wichtig es ist zu Lernen. Es wird als eine Belastung, eine Pflicht im Jugendalter gesehen. Doch niemals sollten wir damit aufhören. Niemals.“