Lernvideos – Fluch oder Segen?

Lernvideos sind ein zweischneidiges Schwert. Sie helfen den Lernenden sich eigenständig Inhalte zu erarbeiten und auf Prüfungen vorzubereiten. Gleichzeitig verführen sie dazu rezeptartige Schemata zu lernen und täuschen in diesem Fall durch den entstehenden Erfolg einen Kompetenzzuwachs vor, der aber nur auf einen Wissenszuwachs zurückzuführen ist.

Ein Beispiel, an dem man das äußerst elegant festmachen kann, sind in der Mathematik die binomische Formeln. Viele nicht-Mathematiklehrer werden an dieser Stelle an schwere Zeiten des Mathematikunterrichts zurück erinnert werden. Man lernte hier feste Regeln, wie man zwei Klammern mit jeweils zwei Summanden multipliziert. Reduziert man das nun auf das alleinige Ziel das korrekte Ergebnis zu bekommen, so können wir theoretisch auch schon Drittklässlern beibringen, wie dies funktioniert und zumindest die (noch nicht zusammengefassten) Terme des ausmultiplizierten Ergebnisses aufschreiben lassen. Und das könnte der Drittklässler durchaus aus einem Lernvideo lernen, da es ja einzig und allein ein Kochrezept, oder etwas fachlicher ausgedrückt, ein Algorithmus ist.

Doch das ist nicht das Ziel, mit dem die Binomischen Formeln im Mathematikunterricht eingeführt werden. Ziel ist es Kompetenzen beim Lösen mathematischer Probleme zu stärken und beispielsweise zu erkennen, dass ein Algorithmus (und das damit verbundene Wissen, für was dieser angewendet werden kann) eine starke Hilfe im Mathematikunterricht sein kann. Genauso wichtig ist aber auch das Verständnis wie dieser Algorithmus zu Stande kommt, damit wir diesen verstehen und nicht nur anwenden können. Erst diese übergeordneten Gedanken machen ihn zu einem wirklichen Hilfsmittel in der zukünftigen Lernlaufbahn, denn ohne dieses tiefliegende (und normalerweise auch nie ganz verblassende Wissen) wird bei den meisten Lernenden nach einiger Zeit der exakte Aufbau des Algorithmus in Vergessenheit geraten. Und hier zeigt sich dann der große Unterschied: Wer die Kompetenz erlernt hat zwei Klammern zu multiplizieren und dadurch weiß, wie der Algorithmus zur Berechnung binomischer Formeln zustande kommt, kann diesen (bewusst oder unterbewusst) weiterhin anwenden. Nur nicht mehr ganz so schnell und mit Zwischenschritten. Wer das pure Kochrezept auswendig gelernt hat, hat nun das gleiche Problem wie wenn es ein Rezept für eine Suppe gewesen wäre: Werden in den Erinnerungen aus den 5 Gramm Salz plötzlich 50 Gramm ist die Suppe schlichtweg nicht mehr genießbar. Und in der Mathematik reicht meist schon die falsche Erinnerung an 6 Gramm, damit das Ergebnis unbrauchbar wird.

Dennoch sehe ich auch für solche „Rezeptvideos“ eine Daseinsberechtigung in der Mathematischen Schulwelt. Solange unsere Bildungswelt noch so sehr auf Klausuren mit richtig und falsch zentriert ist (was dringend mit neuen Prüfungsformaten geändert werden muss, aber das ist ein eigenes Thema), helfen diese Videos dabei eine bessere Note in der nächsten Mathearbeit zu erlangen. Und darauf ist unser Schulsystem nun mal (leider) noch immer ausgerichtet. Sich nun zu überlegen ob deren Existenz gut oder schlecht für die Kompetenzverbesserungen unserer Lernenden ist, ist genau so unsinnig wie die Fragen, ob Social Media, Smartphones oder die Kernspaltung gute oder schlechte Ideen für die Menschheit waren, denn alle haben eines gleich: Sie sind da und gehen nicht mehr weg. Also kann ein Verdammen aus dem Mathematikunterricht nicht die richtige Lösung sein, denn dann werden sie dennoch und, vor Allem, komplett unreflektiert genutzt. Denn von wem sollten die Lernenden lernen, dass sie mit Vorsicht zu genießen sind, wenn nicht durch ihre Lehrkraft?

Meiner persönlichen Meinung nach – zumindest bei jetzigen Aufbau unseres Schulsystems – bekommen rezeptartige Lernvideos für Lernende immer dann ihre Berechtigung, wenn es nahe auf Prüfungen zugeht. In allen anderen Momenten – und das sind bedeutend mehr – ist es unsere Aufgabe den Lernenden zu vermitteln welche Lernvideos sinnvoll sind und welche nicht. Und auch zu vermitteln (oder oft auch nur den Eltern), dass die Note in der nächsten Klassenarbeit in der 8.Klasse in keinem Verhältnis dazu steht, was es Wert ist, eine Kompetenz nachhaltig zu fördern. Mein Fazit? Lernvideos sollten im Unterricht stark thematisiert werden, damit die Lernenden zwischen einfachen Rezepten und echtem Erlernen von Kompetenzen in Videos unterscheiden können und diese sinnvoll einsetzen. Und uns muss klar sein, dass wir in den meisten Fällen die Einzigen sind, die das können, da die Noten gerne eine andere Geschichte erzählen…

About Me

„Der Mensch hat vergessen wie wichtig es ist zu Lernen. Es wird als eine Belastung, eine Pflicht im Jugendalter gesehen. Doch niemals sollten wir damit aufhören. Niemals.“